Und die Kugel rollt...


Ich sitze an diesem verregnetem Scheisstag an meinem Tisch und kein Wort will mir gelingen. Gestern hat ein 17 Jaehriger 16 Menschen getoetet in einem kleinen Staedtchen. Das finde ich unglaublich, wie alle nun reden, wie unauffaellig er war und wie normal. Ich frage mich wie Menschen gesehen werden koennen. Wenn ich koennte, würde ich eine Seh- und Zeigmaschine erfinden...“ Astrid in einer email an mich, zu Beginn des Projektes.


Astrid Bredereck überschrieb ihre Fragestellung und Vorhaben zu ihrem Ladenprojekt mit der Fragestellung nach der ‚Autonomie und Transparenz im Bezeichnen eines öffentlichen Raumes’. Denke ich dies mit dem oben von Astrid formulierten Wunsch einer Seh- und Zeigmaschne zusammen, so ist dies Vorhaben gar gross.


Doch fangen wir am Anfang an.


Wenn die Papierformate nicht mehr ausreichen und das Zeichnen als Prozess weitergeführt werden will, ist der Schritt in den Raum nötig.’

Astrid hat sich entschieden mit ihren Zeichnungen direkt an die Wand zu gehen und damit die Zeichnung selbst Raum werden zu lassen. Sie ist neugierig auf Weite (kein Blattrand in Sicht) und eine neue Körperhaftigkeit die der Wechsel mit sich bringt. Die Räume in denen sich nun ihre Zeichnung ausbreitet sind aus Stein, sie fuegen sich zu Gebäuden, diese reihen sich zu Strassen, Strassen bilden Städte ...! Der gedachte Raum für die Zeichnung ist endlos.

Und weil Astrid Astrid ist, dachte sie sich noch einen Pferdefuss aus. Das heisst: Eine gegebene Vorgabe wird von ihr am Anfang eingefügt, die den gesamten Arbeitsablauf massgeblich bestimmt. In diesem Falle war es die Entscheidung nicht nur irgendeinen Raum zu bezeichnen, sondern einen Laden zu wählen: mit Passanten, Schaufenstern und einer Tür zum ein- und austreten.

Sie begibt sich in Halles Innenstadt und sucht die Nachbarschaft zu anderen Gewerben und Anbietern. Ein kleiner Platz: Friseur, Zahnarzt und Gemüseladen, Angebot und Nachfrage.

Dank der Graduierten Förderung kann Astrid es sich erlauben eine andere Art von Laden aufzumachen. Sie beginnt sich einzurichten. Zeichnet sie, so zieht sie den Vorhang zu, vollbringt ihr Tagewerk und gewährt erst wieder Einblick, wenn sie das Licht für die Nachtbeleuchtung im Laden einschaltet, abschliesst und geht.

Was so entsteht ist zunächst einmal ein Daumenkino für den Betrachter. In minimalsten Versetzungen sehen wir die Zeichnung sich an den Wänden ausbreiten und wachsen.

Nach einiger Zeit findet sich auch ein Titel, den sie als Schriftzug am Schaufenster anbringt. Ihr Angebot: Alles was du siehst gehört dir.

Der Laden ist eröffnet und mein Blick verändert sich.

Alles was du siehst gehört dir.

Ja was sehe ich? Die Zeichnung und? Es erinnert mich an das Spiel aus Kindheitstagen: Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist ...?

Es ist.

Viel ist.

Astrid spielt nun mit uns. Ich sehe was, sagt sie und zeichnet.

Was?

Es ist ganz leicht; so siehe doch!

Wahrnehmung braucht Zeit und Musse. Wir brauchen Zeit, um zu finden, zu fokussieren und dann: erkennen. Und so setze ich mich auf die Bank in ihrem Laden oder schaue des nächtens durch das Schaufenster, drücke mir die Nase platt.

Alles was du siehst gehört dir.

Spiele ich mit, so blicke ich auf das, was sie uns vorhält. Kneife die Augen zusammen und versuche zu erspähen was sie meint,

Und dann kippt das Spiel.

Denn es wird ernst. Alles was du siehst gehört dir. Es ist gar kein Angebot, was sie mir macht, sondern eine Feststellung.

Während Sehen an für sich fast passiver und neutraler Natur ist (alles ist gleich), so ist das Erkennen ein aktiver Vorgang (aha!) der Selektion und Abstraktion. Ich werde mir bewusst wasich sehe. So manches Mal ohne Worte.

Habe ich angebissen, so bin ich ohne Wahl. Was ich gesehen habe ist nun mein, denn der Moment des Erkennens ist ohne Rückweg. Umtausch ausgeschlossen.

Wie ein Scheinwerfer lenken mich Astrids Arbeiten. Ihr Blick öffnet mir neue Räume der Wahrnehmung und ich gehe mit. Ob ich das sehe, was sie sieht, weiss ich nicht; griffe SIE morgen zum Gewehr und wütete gegen die Welt, ich denke nicht, dass ich sagen werde: Das musste ja so kommen, das war ganz klar ... habt ihr die Zeichnungen gesehen? Ui ui ui!’

Aber dann, sie hat es ja auch (bis zum heutigen Tage) nicht getan, habt Ihr die Zeichnungen gesehen? Die hat anderes vor...

Der Anspruch auf die totale Erkennung und Einsicht eines Menschen durch eine Maschine, oder hier das öffentliche Arbeiten zu stellen, scheint mir unmöglich.

Doch das Scheitern in diesem Punkte mindert nicht den Genuss; der Gewinn ist anderer Natur, nicht richtig oder falsch, gut oder böse, sondern mein.

Danke.


 

Annette H. Friedrich

 

Alles was Du siehst gehört Dir

"Gegeben ist nicht eine massive und opake Welt oder ein Universum adäquater Gedanken, sondern eine Reflexion, die sich der Welt in ihrer Dichte zuwendet, um sie zu erhellen, die ihr aber nur nachträglich ihr eigenes Licht zurückwirft."

Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare

 

Du machst die Augen auf und siehst dich um. Was du siehst? Dein Körper bestimmt dein Blickfeld, deine Stirn, die Augenlider, Nasenspitze und Wangen rahmen es. Deine Sicht auf die Welt geht von diesem Punkt der Welt aus und verändert sich mit ihm. Eine Drehung des Kopfes, ein Schritt in diese oder jene Richtung versetzen den Raum um dich in Schwingung. Augenblick für Augenblick gelangst du zur Welt. Du trägst sie mit dir herum. Wohin du blickst, entsteht sie.

 

Zum Beispiel dieser Ladenraum. Fünfeckig und hell entfaltet er sich um dich, hinter dir zwei große Schaufenster und die schmale Glastür, vor dir eine weiße Wand, die auf eine zweite stößt. Klar umrissene, graue Felder kannst du auf den Wänden erkennen. Wenn du den Kopf in den Nacken legst, siehst du auf die Decke aus transparenten Platten. Sie geben den Blick auf die alte Ladendecke frei, auf den Raum hinter dem Raum, auf die Fläche hinter der Fläche.

 

Die mit Bleistift gezeichneten Flächen auf den weißen, glatt geschliffenen Wänden: Wenn du auf sie zugehst, beginnen sie sich zu verändern. Einmal senken sie sich als schwere, weiche Struktur in die Wand hinein, im nächsten Augenblick liegen sie glatt und kühl wie ein hauchdünner Quecksilberfilm auf der Wand. Du fragst dich, ob sie sich öffnen oder verbergen, ob sie sich unter der weißen Wandfläche weiter ausbreiten. Zeigen ihre Umrisse eine Gestalt oder eine Aussparung? Ist der Übergang von bezeichneter zu weißer Fläche wie die Stille nach dem Sprechen, oder verliert die Grenzziehung ihre Bedeutung, weil die Wand allem unablässig als Grund dient?

 

Du schaust, und die Flächen werden zu Bildern, zu Überblicken und Einblicken. Sie sind vielleicht: schwimmende Kontinente; Landschaften im Nebel; feuchte Wiesen, Moore und Flüsse; Sternennächte; narbige Felle von Tieren; weiche Stoffe; Wasser, über das ein Wind streicht; blätternder Putz, der alte Mauern freilegt; ein Blick auf Zellstrukturen durchs Mikroskop; die Tapete neben deinem Bett, wenn du krank bist, auf der Formen und Figuren auftauchen und wieder verschwinden.

 

Wenn du dicht an der Wand stehst, werden aus den Feldern Strukturen und daraus Schraffuren, die in vielen Reihen stehen. Sie fließen an ihren Rändern übereinander, überlagern sich wie Schuppen, bilden Jahresringe, schließen sich zu Wellen und Wirbeln zusammen. Sie sind Zeichen und Bezeichnendes; sie weisen auf sich und auf ihren Zeichengrund hin, sind Seismographen der Wand, ihrer porösen, fettigen, unebenen und feuchten Stellen.

 

In den Schraffuren siehst du schließlich Strich an Strich gesetzt. Du könntest sie zählen. Jeder von ihnen ist das Notat eines Bleistifts, auf den weißen, glatten Grund aufgesetzt und über die Länge deines Daumennagels gezogen, mal sanft, mal mit Nachdruck, mit weichen und harten Minen. Jeder Strich ist seine eigene Form, seine eigene Bewegung und Grenze, die kleinste Einheit des Bildes. Strich für Strich knüpft sich auf den Flächen ein Gewebe aus Fluchtpunkten, das dir so viele Blickwinkel öffnet, wie du sie dir vorstellen kannst. Die Welt ist das, was du siehst, vor und hinter und zwischen den Flächen, vom Makro- in den Mikrokosmos und zurück.


 

Christina Schumacher

Heute bin ich nicht vorbeigefahren, und gestern auch nicht. Oder? Halt! Doch, es ist sogar etwas anderes drin- Essen hängend im Raum. Kunst mit Essen mag ich nicht. Eine ganze Installation Pappteller für die Familie gefüllt hängt da im Raum. Zum Glück sind die Teller nur bemalt und zwar von Kindern. Rezepte gibt es vielleicht auch an der Wand und es geht ums Zusammenleben. Letzte Woche wurde sogar draußen gekocht, sah richtig lustig und nett aus. Aber ich bin aus dem Alter raus, Familie habe ich zu Hause und Kochen kann ich nicht besonders, also gehöre ich nicht zur richtigen Zielgruppe. Ich bin der flüchtige, wohlmeinende, beobachtende, vorbeisausende Radfahrer. Tatsächlich hab ich mir die Teller noch nie von Nahem beschaut, obwohl ich die Aktion sehr gelungen finde.

Und, diesen kleinen Laden liebe ich schon immer. Seit ich in Halle wohne, komme ich hier ständig vorbei. Immerzu scheint er von anderen Glücksrittern erobert zu werden. Meine früheste Erinnerung reicht an Streetware - Irgend ein Laden für Skater. Der Besitzer wechselte oft das Graffiti seiner Werbewand direkt neben dem Verkaufsraum, ich wartete stets auf seine nächste Kreation. Man konnte irgendwann auch mal froh sein, als Single zu leben, weil man sich dann hier treffen durfte und Reisen für einen organisiert wurden. Dann wieder gab es afrikanische Frisuren zu kaufen und dann... Ja, da stand der Laden lange verwaist.

Irgendwann wurden die Wände innen neu verputzt und geweißt und dann rätselten wir am Abendbrottisch, was wohl nun in unserem Laden verkauft würde. Länger schien sich nichts zu tun, aber als ich mit meiner Tochter vorbeiging, erzählte sie mir, dass da jemand mit Bleistift an die Wand malt. Ich konnte es nicht fassen und dachte, mein Kind nimmt mich auf den Arm. Welcher Ladeninhaber hat so viel Kunstverständnis und so viel Geld, einen Laden mit der Hand bemalen zu lassen? Und mit Bleistift? Unglaublich! Der Laden erschien immer noch verwaist, aber jeden Tag, kam es mir so vor, als würde dieser schwarze Fleck an der Wand wachsen. Ja - er breitete sich aus, und wuchs millimeterweise wie ein Flechte. Unterschiedliche Nuancen schienen irgendetwas zu werden, aber was? Und tatsächlich, jetzt liegen die Stifte näher- es sind wirklich Bleistifte, mit denen da gezeichnet wird. Wir rätseln alle am Abendbrottisch.  Und eines Tages, ist die Maus in der Falle, die da Ihr Fell an die Wand heftet. Die Tür zum Laden steht offen und ich kann es mir nicht verkneifen, ich muss da rein und mir die Geschichte von Nahem betrachten. Am Liebsten würde ich das Fell streicheln. Es wirkt so lebendig, faszinierend fertig und unfertig zugleich. Hier entsteht es vor mir an der Wand. Es wächst, während ich hinschaue. Oh wie spannend. Ich hoffe und wünsche, dass die junge Frau es richtig gut hinbekommt. Ich fiebere mit ihr, denn man kann ja auch alles verderben. Hoffentlich... wie spannend, wie faszinierend. Ich denke darüber nach, ob ich jemals jemandem so über die Schulter schauen durfte, wie bei der Entstehung dieser Bilder. Inzwischen gibt es an der zum Fenster näheren Wand auch einige Flecke und ich kann nun viel besser beobachten.
Alles, was Du siehst, gehört Dir. Inzwischen steht dieser Vers am Fenster, der Laden ist abends beleuchtet und manchmal gehe ich nur dort vorbei, um zu verweilen.
Ja, es gehört mir. Ich denke viel darüber nach. Gehört es mir wirklich, und wie lange darf ich es behalten? Darf ich es behalten ? Wie gehört es mir?
Alles was ich sehe. Vorgestern habe ich die Teller gesehen, aber sie gehören mir nicht. Die Bilder, kann ich leider nicht mehr betrachten, sie mussten entfernt werden. Es war mir nicht möglich, während dieser Zeit am Laden zu verweilen, und auch heute, mag ich es noch nicht. Ich bin traurig gezwungen vorbeizufahren und über das Essen zu meckern, weil ich ein Bild aus Bleistift an die Wand sehne.
Was ich sehe, gehört mir. Irgendwann verschwimmt die Erinnerung, das Mäuschenfell wird von der Katze gefressen. Aber die Katze muss gebraten werden. Dafür gibt es die Teller.  Was bleibt?  Der Laden...


 

Mechthild Bungenberg